
St.Gallen: Eine Zeitreise
St.Gallen | Zeitlos, einzigartig, inspirierend lautet das Leitbild des Stiftsbezirks von St.Gallen. Diesem wird die UNESCOWeltkulturerbestätte allemal gerecht. Jetzt werden in neuen Ausstellungen noch weitere bisher verborgene Schätze erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Flügeltüren öffnen sich feierlich. Sie geben den Blick frei auf den kleinen, abgedunkelten Raum, wo einer der kostbarsten, kulturgeschichtlichen Schätze des Abendlandes ausgestellt ist: Der St.Galler Klosterplan. Das Manuskript aus fünf aneinander genähten Schafspergamentbättern ist eine Besonderheit. Es handelt sich um den weltweit einzigen im Original erhaltenen Klosterplan aus dem Mittelalter und somit die früheste Darstellung eines Konzepts der Klosterarchitektur.
Das Dokument wurde zwischen 819 und 826, zur Blütezeit des Karolingerreiches, im Kloster Reichenau am Bodensee gezeichnet und dem St.Galler Abt für dessen Klosterbau zugesandt. Dass es heute noch erhalten ist, ist einem Mönch zu verdanken, der auf der Rückseite die Geschichte des Heiligen Martins dokumentierte. Diese wurde gemeinsam mit anderen historischen Exponaten Jahrhunderte lang tief in den unterirdischen Dunkelkammern des St.Galler Stiftsbezirks aufbewahrt.
Heute bilden die Schriften des Stiftsarchivs, darunter über 800 Originaldokumente aus der Gründungszeit, eine der ältesten Sammlungen der Welt. Keinem anderen Kloster ist es gelungen, ein derart wertvolles Erbe in die Gegenwart zu retten. Deshalb aber auch aufgrund seiner baulichen Schätze wurde der St.Galler Stiftsbezirk 1983 zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. Wer ihn heute besucht, taucht in 1400 Jahre Klostergeschichte ein.
Und doch schienen die Weichen zunächst ganz anders gestellt. Als Gründervater und Mönch Gallus um 612 seine Klause am Ufer der Steinach errichtete, wählte er bewusst keinen Verkehrsknotenpunkt, sondern die Einöde. Somit war die spätere Abtei, deren Grundstein er legte, im grünen Hochtal zwischen dem Bodensee und dem Säntis zwar sehr idyllisch gelegen, jedoch strategisch eher ungünstig. Umso bemerkenswerter also, dass sich das Galluskloster dennoch zur wichtigsten «Schreibstube Europas» entwickelte.
Diese Errungenschaft ist den Benediktinermönchen zuzuschreiben, deren Geist St.Gallen bis heute prägt. Im Herzen des Stiftsbezirks eröffnen sich Türen und Pforten in ihre Welt. Im Zentrum stehen dabei aber nicht mehr nur die ehemalige Fürstabtei mit ihrer prachtvollen Barockkirche und die Stiftsbibliothek mit ihrer Sammlung frühmittelalterlicher Original-Handschriften im geschwungenen Barocksaal. Neuerdings rückt auch das Stiftsarchiv ins Rampenlicht.
Im Zuge einer Neuorientierung des Stiftsbezirks, die das Weltkulturerbe noch zugänglicher machen soll, wurden letztes Jahr zwei zusätzliche Vermittlungsstätten im Gewölbekeller und im ehemaligen «Raum für Kultur» gegenüber der Kathedrale realisiert. Sie bieten die Möglichkeit, bisher verborgene Schätze des Klosters auf zeitgemässe Weise analog sowie digital zu inszenieren.
Während sich die Dauerausstellung «Gallus und sein Kloster» im Gewölbekeller der Stiftsbibliothek mit 1400 Jahre Kulturgeschichte beschäftigt, ist «Das Wunder der Überlieferung» im Ausstellungssaal des Stiftsarchivs der einmalige Überlieferungsdichte von Dokumenten des Frühmittelalters in St.Gallen gewidmet. Hauptattraktion letzterer ist natürlich der St.Galler Klosterplan, der erstmals nicht nur als Faksimile, sondern im Original zu sehen ist.
Nach einem Film, der in das historische Artefakt und das Leben des Frühmittelalters einführt, ist für uns nun der grosse Moment gekommen: Zum vierten und letzten Mal in dieser Stunde öffnet sich der Deckel der Vitrine und gibt den Blick auf den Klosterplan frei. An die 50 Gebäude sind zu sehen; dargestellt in ihrer Lage, Grösse und Funktion und teilweise ergänzt mit Einrichtungselementen wie Betten und Tischen. Auch die Geschichte des Heiligen Martins auf der Rückseite scheint an manchen Stellen durch. Wir staunen; sind sprachlos.
Lediglich 20 Sekunden dauert das Spektakel im gedämpften Licht von 30 Lux, bevor sich der Deckel wieder fest schliesst. Nicht genug Zeit, um den Plan in allen Details zu erfassen, aber darum geht es auch nicht. Es ist Teil der Wirkung, die in unserer Zeit der Digitalisierung und Virtualisierung besonders stark nachzuhallen scheint. Ein Erlebnis mit Gänsehaut-Garantie!
Praktisches
Stiftsbibliothek St.Gallen
Klosterhof 6D
9000 St.Gallen
+41 (0)71 227 34 16
NEU: Öffentliche Führungen um 18:00 Uhr am ersten Donnerstag im Monat
Erwachsene CHF 18
Freier Eintritt für Kinder unter 16 Jahren in Begleitung eines Erwachsenen
Weitere Kulturtipps:
St.Gallen-Bodensee
Tourismus, Bankgasse 9
9001 St.Gallen
+41 (0)71 227 37 37
Ausstellungen
Barocksaal, Stiftsbibliothek: «Die schönsten Seiten der Schweiz Geistliche Handschriften», 10. März bis 8. November 2020
Gewölbekeller, Stiftsbibliothek: «Gallus und sein Kloster 1400 Jahre Kulturgeschichte», Dauerausstellung
Ausstellungssaal, Stiftsarchiv: «Das Wunder der Überlieferung Der St.Galler Klosterplan und Europa im frühen Mittelalter», Dauerausstellung
Ausstellungssaal, Stiftsarchiv: «Folcwins Gedächtnis Ein Privatarchiv aus dem frühmittelalterlichen Rätien», 10. Januar 2020 bis 6. Januar 2021
Spot Tipp: Öffentliche- sowie Gruppen-Führungen stehen zur Auswahl. Für Kinder und Familien gibt es spezielle Angebote.