
Grosser Aletschgletscher: Das grösste Gut
Es gibt Orte, deren Besonderheit weder Worte noch Bilder auszudrücken vermögen. Dazu zählt das Gebiet um den Grossen Aletschgletscher in der Aletsch Arena.
In Ried-Mörel verlassen wir unsere Welt; in der Aletsch Arena die Zivilisation. «Tok-Tok-Tok», schlägt der Wasserhammer auf der Riederalp. Wir sind nun im 16. Jahrhundert angelangt. Das Leben ist hart. An den kargen Südhängen rund um den Grossen Aletschgletscher fehlt das Wasser. Es muss in mühevoll konstruierten Leiten, den Suonen, zu Dörfern, Äcker, Felder und Wiesen geführt werden. Die Arbeit ist lebensgefährlich; der Tod ein ständiger Begleiter. Doch noch schlägt der Hammer. Das Wasser fliesst. Aber wie lange, ist ungewiss.
«Wasser isch Läbu, keis lat stärbu», hallt das alte Oberwalliser Sprichwort durch die dunkle Nacht. «Wasser ist Leben, keines lässt sterben.» Das Freilichtspiel «Der letzte Sander von Oberried» erzählt aus den Tagen, als Wasser im Aletschgebiet noch keine Selbstverständlichkeit war und zieht Parallelen zur heutigen Zeit. Mit den Aufführungen letzten Sommer wollte die lokale Bevölkerung und der Kulturverein Aletsch Menschen für den Erhalt und die Achtung kostbarer Natur- und Kulturgüter sensibilisieren. Das Thema ist brand-aktuell. Die Oberwalliser sind die Wächter des längsten Eisstroms der Alpen. Und dieser schmilzt mit erschreckend rasanter Geschwindigkeit.
Gletscherweg und Freilichtspiel «Der letzte Sander von Oberried» mit Profi-Schauspielerin Michaela Gurten in der Hauptrolle «Anna.»
Natur im Wandel
Noch ist der Grosse Aletschgletscher in seiner Dimension schier unbegreiflich. Mit seiner 11 Milliarden Tonnen schweren Eismasse und seiner 22 Kilometer langen Zunge wiegt er mehr als 72 Millionen Jumbo-Jets und speichert so grosse Wasserreserven, dass er die gesamte Menschheit 4.5 Jahre täglich mit einem Liter versorgen könnte.
Eishöhlen sollen wenn überhaupt nur in professioneller Begleitung betreten werden.
Noch bis vor 150 Jahren war der Eisriese auf dem Vormarsch. Immer weiter bahnte er sich den Weg in Richtung Tal, begrub Weiden und Wälder unter Eis und Schutt und bedrohte die Existenz der Menschen, die das Land bewirtschafteten. Die Oberwalliser veranstalteten Prozessionen, besprenkelten den Gletscher mit Weihwasser und baten, doch endlich innezuhalten bis er es eines Tages auch tat. Heute markiert ein rund 200 Meter hohes helles Band in der Landschaft den letzten Höchststand um 1860.
Seither hat sich das Blatt gewendet. Die Erderwärmung hat den Unendlichen endlich gemacht. Er verliert an heissen Tagen bis zu 80'000 Liter Wasser in der Sekunde. Vergebens hat die lokale Bevölkerung erneut eine Delegation zum Papst nach Rom gesandt mit der Bitte, dass der Gletscher wieder wachsen solle.
So unbarmherzig schreitet der Gletscherschwund mittlerweile voran, dass Glaziologen der ETH Zürich und der Universität Fribourg dem Titanen nur noch eine kurze Lebensdauer prophezeien. Bis Ende dieses Jahrhunderts soll er fast gänzlich verschwunden sein und das auch, wenn der Mensch ab sofort keine Treibhausgase mehr produziert. Nicht nur für die Oberwalliser unvorstellbar.
In der Aletsch Arena stehen Wanderstrecken in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen zur Auswahl.
Längst hat die Welt den universellen Wert des grössten zusammenhängenden Gletschergebietes der Alpen erkannt. 2001 erkor die UNESCO die Hochgebirgslandschaft Jungfrau-Aletsch zum ersten Welterbe der Alpen. Viel wird in die Aufklärungsarbeit und Wissensvermittlung investiert. Zudem werden zahlreiche Gletschererlebnisse geboten, welche die Einzigartigkeit des Giganten erlebbar machen sollen. Denn nur was man kennt, kann man auch wahrhaft als schützenswert empfinden.
Ein Erlebnis für die Sinne
Am Morgen nach dem ergreifenden Freilichtspiel schweben wir selbst in die Welt des Titanen. Oben auf dem View Point Bettmerhorn, einem von drei inszenierten Aussichtspunkten, weht der Wind kühl und frisch aus der Tiefe. Eingebettet in die dunklen, rauen Flanken firngleissender Viertausender liegt er uns nun zu Füssen, der mächtigste Gletscher der Alpen. Er strahlt und funkelt wie ein Diamant im herbstlichen Farbenspiel.
Im «Ferienshop» kann eine Übernachtung mit passendem Erlebnisangebot gebucht werden.
Einen Augenblick lang verstummen die Betrachter. Sie sind lediglich ein Moment in der 18'000-jährigen Geschichte des Gletschers; winzige Punkte inmitten der gigantischen Naturkulisse, die besonders an einem Herbsttag wie diesen in ihrer Schönheit nur schwer in Worte zu fassen ist: Hoch über der Gletscherzunge stehen die dunklen Berner- und Walliser Alpen unter dem blauen Himmeldach Spalier wie Zinnsoldaten. Darunter, an den steilen Felsflanken, die das ewige Eis einst zurecht schliff, leuchten die Alpenrosen in tiefem Rot. Und weiter talwärts erheben sich die fast tausendjährigen Arven des geschützten Aletschwaldes in kräftigem Goldgelb. Es ist ein Bild, wie von Künstlerhand gemalt.
Wir atmen tief ein; lassen die Energie auf uns wirken, die hier aus dem Inneren strahlt. Seit Generationen gelten die Aussichtsberge Moosfluh, Bettmerhorn oder Eggishorn als magische Orte. Vor vier Jahren wurde ihre Kraft auch durch den Naturenergetiker Philippe Elsener validiert. Heute laden Infotafeln und spezielle Veranstaltungen dazu ein, innezuhalten und die Energie bewusst zu erleben. Zusätzlich werden Besucher animiert, mittels «Glücksteine» Sorgen und Wünsche auf dem Gipfel zu deponieren und somit weiteren Ballast abzulegen. Eine schöne Geste, der wir gerne folgen, ehe wir unsere Wanderschuhe schnüren.
Der Gletscherweg führt direkt am Grossen Aletschgletscher entlang.
Erkundung auf eigene Faust
Als Wanderer haben wir nun die Qual der Wahl. 300 Wegkilometer bieten in der Aletsch Arena eine Vielfalt an Optionen, von kinderwagentauglichen bis hin zu hochalpinen Routen und geführten Gletschertouren. Wir entscheiden uns für den Klassiker, den 13.9km langen Gletscherweg zum Märjelensee und zurück zur Bettmeralp.
Vom View Point Bettmerhorn auf 2'647 m.ü.M, geht es vorerst leicht absteigend über Hobalm in Richtung Rote Chumma. Von dort folgen wir dem breiten, in den Felsen gehauenen Weg bis an die Gratkante, die vom Eggishorn in Richtung Märjelensee führt. Fortan sind Eis, Fels, Wasser und eine bezaubernde Alpenflora unsere stetigen Begleiter.
Erfahrene Bergführer führen Seilschaften aufs Eis und berichten Spannendes über den Gletscher.
Immer kühler wird die Brise; immer lauter das Gurgeln und Rauschen aus dem Untergrund. Mit jedem Streckenabschnitt kommen wir dem Gletscher näher, erkennen neue Details im Meer aus Schnee und Eis. Zwei dunkle Mittelmoränen verleihen dem Grossen Aletschgletscher sein unverkennbares Aussehen. Sie trennen die drei Firne am Konkordiaplatz, der tiefsten Stelle, wo drei gefrorene Flüsse zusammenfliessen und allerlei Geröll transportieren, von Kieseln bis zu meterhohen Felsbrocken. Daneben ist die Eislandschaft zerklüftet und aufgebrochen wie eine Strasse nach einem langen Winter. Aus tiefen Spalten schimmert leuchtendes Türkis oder helles Blau. Und dazwischen wandern vereinzelt geführte Seilschaften, winzig wie Ameisen.
Auf der Höhe des Märjelensees, wo der Gletscher einen weitausholenden Bogen schlägt, biegen auch wir ab. Einst staute hier eine mächtige Eiswand so viel Wasser auf, dass auf dem See hausgrosse Eisberge trieben. Heute sind in der Senke nur mehr Tümpel übrig geblieben. Dafür ist die Landschaft mit Wollgräsern übersät und bietet mit dem Bergrestaurant Gletscherstube eine schöne Einkehrmöglichkeit.
Nach einer Portion Rösti und Apfelkuchen aus dem Holzbackofen wählen wir die Abkürzung durch den begehbaren Wasserstollen ins Obere Tälli. Vorbei an einer alten Walsersiedlung und mit Blick auf das Rhonetal wandern wir gemütlich den breiten, asphaltierten Weg entlang zur Fiescheralp und weiter bis zur «Bättmerhitta», bekannt für die traditionellen Eringer-Fleischspezialitäten.
Der Herrenweg passiert den schönen Bettmersee.
Hier zweigen wir ab und folgen dem historischen «Herrenweg» zur Riederalp. Die gemütliche Geniesserroute bietet nicht nur einen grossartigen Panoramablick auf die Mischabelgruppe, das Matterhorn und das Weisshorn; sie führt auch die malerischen Alpen entlang, die sich voller Leben präsentieren und bis heute in enger Symbiose mit dem Grossen Aletsch Gletscher existieren. «Tok-Tok-Tok», schlägt dort der Wasserhammer. Doch wie lange noch, ist ungewiss!
SPOT TIPPS: Wandern im Aletschgebiet
Gletscherweg
Rundwanderung entlang des Grossen Aletschgletschers
Länge: 13.9km, Anstieg: 101hm, Abstieg: 824hm
Route: Bettmerhorn - Märjelesee - Obers Tälli - Fiescheralp - Bettmeralp - (wahlweise Verlängerung bis nach Riederalp)
UNESCO Höhenweg
Gratweg für trittsichere und schwindelfreie Wanderer
Länge: 2.56km, Anstieg: 385hm, Abstieg:166hm
Route: Bettmerhorn - Elselicka - Eggishorn
Highlight: Neuer Rundweg Eggishorn mit 360 Grad Sicht auf über 40 Viertausender und einer gemütlichen Lounge.
Hängebrücken Tour Aletsch Goms
Wanderung über die fünf Hängebrücken der Region: Belalp - Riederalp, Aspi-Titter, die Goms-Bridge, die kleine Massa bei Bitsch und die Kittbrücke im Obergoms.
Geführte Wanderungen
Eishöhlen am Grossen Aletschgletscher: Wanderung vom View Point Moosfluh zu den Eishöhlen und zurück durch den geschützten Aletschwald.
Spurensuche am Grossen Aletschgletscher: Erkundungstour mit Ausgangspunkt View Point Eggishorn
Weitere Tipps: aletscharena.ch/wandern