
Gratwanderung Stanserhorn-Engelberg: Aufbruch ins Freie
Stanserhorn-Engelberg | Allein durch die Natur streifen.... Diese Sehnsucht ist nicht neu. Doch gerade jetzt zwischen Overtourismus, Instagram-Hype und der alles dominierenden Pandemie ist der Wunsch nach Abstand, Weite und unberührter Natur grösser als je zuvor. Und tatsächlich gibt es sie noch, die einsamen Orte direkt vor unserer Haustüre, wo man zwischen Himmel und Erde neue Perspektiven finden kann. Justin und Karel wurden auf der Gratwanderung vom Stanserhorn nach Engelberg fündig.
Das Panoramaglück beginnt mit der Bergfahrt. Die Sonne lacht; die Haare flattern im Wind. Nur vereinzelte Quellwolken verdecken die Aussicht, die von der Jurakette über zehn Seen bis zum Schwarzwald reicht. Friedlich ruht die Welt am glitzernden Vierwaldstättersee zu unseren Füssen, während wir unter den wachsamen Augen von Rigi und Pilatus dem Himmel entgegenrauschen; zuerst im über 125 Jahre alten offenen Holzwaggon und dann auf dem Dach der weltersten CabriO-Luftseilbahn.
Was lange währt, wird gut, heisst es. Und unsere Geduld hat sich gelohnt. Nach wiederholtem Wetterpech zeigt sich nun das 360° Grad-Panorama auf dem Stanserhorn auf 1900 m ü. M. in seiner vollen Pracht. Auf der Sonnenterrasse des Drehrestaurants schweift der Blick beim feinen Zmorge über die 100 km lange Alpenkette in Richtung Engelbergertal. Gute 25 km oder zwei Tage Fussmarsch entfernt liegt dort unser Etappenziel. Die Wanderroute, die dazwischen vorwiegend auf dem Grat verläuft, formt die Königsetappe des «Tell-Trails», der über 156 km von Altdorf bis zum Brienzer Rothorn führt.
Beim Einstieg trennt sich die Spreu vom Weizen, also der Aussichtstourist vom Bergwanderer. Jetzt ist gutes Schuhwerk, Trittfestigkeit und Konzentration gefragt. In spitzen Kehren windet sich der Weg um das «Chli Horn» hinab zum Ächerlipass. Links und rechts führen mit Steinbrocken übersäte Wiesen steil in den Abgrund. Kuhglocken bimmeln. Bei der «Alpkäserei Chüeneren» ist die Alpsaison in vollem Gange. Ein Helikopter schwirrt über unseren Köpfen, transportiert das mühevoll gesammelte Heu für den Winter ins Tal. Wir nutzen die letzte Möglichkeit, unsere Wasserreserven aufzufüllen und Proviant einzukaufen; danach lassen wir die Zivilisation endgültig hinter uns. In den nächsten Stunden wird uns keine Menschenseele mehr begegnen ein Privileg mitten im Herzen der Schweiz.
Wege im Abseits
Durch den Arviwald geht es nun bergauf zum Arvigrat auf 2000 m ü. M. Ein Lüftchen weht. Grüne Fenster umrahmen grandiose Aussichten. Wir gehen schweigend, jeder in seinem Rhythmus und den eigenen Gedanken überlassen, mal der eine, mal der andere voraus. Flauschige Wölkchen spiegeln sich im blauen Sarnersee, Bergspitzen strahlen; die würzige Bergluft ist ein Geschenk für die Lungen und die Heidelbeeren am Wegrand sind ein Grund, den Blick für die Nebensächlichkeiten zu schärfen. Kein Wunder, erlebt doch das Wandern besonders in Zeiten wie diesen eine Renaissance. Haben wir für vieles keine Antwort, so wissen wir, wie man von A nach B geht, egal welches Auf und Ab dazwischen liegt. Wandern erfüllt eine geistige Aufgabe mit Muskelmasse; es schenkt Abstand und neue Perspektiven. Wer auf 25 km oder gar 156 km an seine körperlichen Grenzen gestossen ist, mag tatsächlich meinen, dem Himmel etwas näher gekommen zu sein. Besonders in Momenten wie jetzt.
Auf dem nun folgenden Grat werden alle bisherigen Anstrengungen belohnt. Die Aussicht ist schlicht überwältigend. Links schlummert das Engelbergertal am Fusse der Nidwalder Bergwelt; rechts erstreckt sich die idyllische Obwaldner Landschaft. Ein kurzer Halt zur Stärkung, denn nun braucht es Präzision. Auf beiden Seiten fällt das grasbewachsene Land fast senkrecht ab, mahnt zur Achtsamkeit. Mit der Konzentration leert sich der Kopf. Die Beine stehen einzig im Hier und Jetzt; der Blick ist auf das Wesentliche gerichtet. Voran balanciert der Gratwanderweg in luftiger Höhe munter weiter zuerst über den Gräfimattgrat zum Gräfimattstand und dann dem Schingrat entlang hinunter zum Zwischenziel auf 1938 m ü. M: der Alp Laucheren. Unterwegs begegnet uns eine Herde munterer Geissen, die aufgeregt das Salz von unseren Beinen leckt. Eindrucksvoll und fast schon beneidenswert ihre Standfestigkeit!
Gastfreundschaft mit Herz
Wenige Gehminuten später ist die Alp Laucheren eine familiäre Angelegenheit. Herzlich ist die Begrüssung, liebevoll die Bewirtung und ein wahres Geschenk des Himmels der grosse Topf Älplermagronen mit Apfelschnitzen nach Schwiegermutters Art. 28 Jahre schon pflegen Melk und Agnes jeweils von Anfang Juni bis Ende September inmitten dieses natürlichen Amphitheaters Vieh und Land. Nun wurde eigens für die Besucher der Gratwanderung Stanserhon-Engelberg ein kleiner Zeltplatz mit Mietzelten eingerichtet. Eine Übernachtung ist unvergesslich. Entzückt sehen wir zu, wie das letzte Licht ob der Welt erlischt und die Dunkelheit den funkelnden Sternen weicht. Dann schlafen wir zum Gebimmel der Kuhglocken, tief und fest, bis uns der Hahn pünktlich zum ersten Tageslicht wieder weckt. Ein grosszügiger Älplerzmorge ist aufgetischt; die Alp längst zum Leben erwacht. Etwas wehmütig verabschieden wir uns, verspricht der Tag auch Aufregendes.
Voraus liegt die spektakuläre Felspassage «Wagenleis», die Schlüsselstelle unserer Wanderung. Am Fusse der zackigen Felsscharten heisst es: Kamera wegpacken, einmal tief durchatmen, nicht viel nachdenken und Lukas folgen, einem Zimmermann und Freund von Melk und Agnes, der diesen Weg zum Füttern der Schafe täglich passiert. Die Initiatoren der Gratwanderung haben es uns auch so leicht wie möglich gemacht: Ketten, Seile und Eisentritte wurden speziell installiert. Trotzdem pocht das Herz und will sich erst wieder auf dem schmalen Weg beruhigen, der später oben entlang des Schluchigrates zu den Schafen und ihren zwei ungewöhnlichen Beschützern zwei Lamas führt. Melk und Agnes haben die Exoten nach einem Wolfsriss angeschafft. Seither herrscht Ruhe.
Der Zivilisation entgegen
Beim Chrüzibödmer folgt der steile Abstieg durch den Wald bis zum Lachengrätli und dem Storeggpass. Am idyllischen Lutersee lohnt es sich, eine Pause einzulegen, das Lunchpaket von Melk und Agnes auszupacken und ins erfrischende Nass einzutauchen. Im Anschluss geht es nämlich ein letztes Mal dem Himmel entgegen. Die Waden brennen, doch nun heisst es noch einmal die Kräfte zu sammeln, um schliesslich den höchsten Punkt der Tour, das Bocki auf 2155 Meter zu erreichen. Oben ist man noch einmal alleine mit sich und der Welt. Grandios ist der Blick auf den Titlis, der uns auf dem weiteren Weg hinunter zum Untertübsee und schliesslich nach Engelberg begleitet. Wir sind zurück in der Zivilisation, doch Kopf und Geist verweilen noch etwas länger am Berg. Eine kurze Auszeit mit langer Wirkung...
Praktisches
Engelberg-Titlis Tourismus
+41 (0)41 639 77 77
Gratwanderung Stanserhorn-Engelberg (Etappe 5 des Tell-Trails)
Wanderzeit: 10 h, Strecke: 25.1 km
Dem Nidwaldner Höhenweg folgend wandern Sie bis nach Engelberg. Höhepunkt des Tell-Trails ist die neu erschlossene Gratwanderung zwischen dem Stanserhorn und Engelberg. Die Wanderung kann gut auch als Rundwanderung in zwei Tagen begangen werden.
Package-Angebot inkl. Gepäcktransport Stans-Engelberg, Bahnfahrt Stanserhorn, HP und Nacht im Zelt auf der Alp Laucheren sowie Übernachtung im Hotel in Engelberg mit Frühstück ab CHF 269, engelberg.ch/gratwanderung
Weitwanderung Tell-Trail
Tell-Trail: 8 Etappen, 156 km
Aufstieg: 7126 hm (inkl. Bahnen: 13658 hm)
Abstieg: 8176 hm (inkl. Bahnen: 12956 hm)
6 Berge: Fronalpstock, Rigi, Pilatus, Stanserhorn, Titlis und Brienzer Rothorn; 11 Seen
Digitale Karten und GPS-Daten weisen den Weg. Der Trail fällt in die Kategorie T3 (anspruchsvolles Bergwandern). Trittsicherheit, Schwindelfreiheit und eine gewisse Grundkondition werden vorausgesetzt. Weitere Infos unter luzern.com